Hildegard (Lucie) – oder wie ein kleiner Hund alles auf den Kopf stellt

Um es gleich vorab zu sagen: NEIN – wir wollten keinen dritten Hund – und NEIN – wir

wollten auch keinen Welpen/Junghund mehr. Mit unseren beiden Hunden Schroeder und

Kekes, beide aus dem sardischen Tierschutz, läuft alles prima. Warum das ändern?? Dazu

einen Welpen/Junghund? NEIN - das muss doch nicht sein. Aber nun mal von Anfang an:

Ende Januar schickte Andrea Richter mir über WhatsApp Fotos einer kleinen braunen

Hündin mit den Worten: „Das ist Lucie, wahrscheinlich blind. Eine von den neuen Welpen.

Sehr zart und klein bleibend. Wir möchten sie so schnell wie möglich aus dem Canile holen.

Könnt Ihr bitte fleißig Werbung für die Kleine machen?“

Andrea und ich kennen uns schon viele Jahre, haben jahrelang gemeinsam Tierschutz auf

Sardinien gemacht. Wir telefonierten kurz über Lucie. Sie sei in einem kleinen Käfig

eingesperrt, Anfang November geboren. Da war es schon fast um mich geschehen.

Pflegestelle könnte ich ja machen – aber wie das meinem Mann Peter beibringen?. Ein

weiterer Hund kam ja nicht infrage. Aber die Fotos kann ich ihm ja mal schicken, nur so zum

Zeigen. Er schaute sich die Fotos an und schaute mich an. Ich solle mir mal weitere Infos

einholen, sagte er. Gesagt, getan und Karin Loebnitz angerufen.

Nachdem wir alle Informationen hatten, tagte der Familienrat. Das Für und Wider wurde

abgewogen und wir entschlossen uns, Lucie als Pflegehund mit Option der Übernahme bei

uns aufzunehmen.

Karin sagte uns, dass Lucie vermutlich auf einem Auge blind sei und auf dem anderen

sehbehindert. Das würde in Deutschland aber noch einmal genauer untersucht werden. Also

kaufte ich zwei Bücher über blinde Hunde – man muss ja vorbereitet sein. Die Vorkontrolle

war fix erledigt, der Vertrag wurde gemacht und wir bereiteten alles für Lucie vor. Sie wurde

für Ende Februar auf den Transport geplant.

Am 25.02.2023 war der große Tag – Lucie kam mitten in der Nach in Hilden an. Natürlich

waren wir aufgeregt. Und sie war so unfassbar klein, wog nur 1,9 kg, und so zart. Wir tauften

sie Hildegard.

Am 09.03.2023 ging es dann gleich zur Augenärztin. Sie war großartig, erklärte uns alles

ganz genau: Beim linken Auge ist weder eine Netzhaut noch ein Sehnerv angelegt, beim

rechten Auge gibt es teilweise eine Netzhaut und einen Sehnerv und Hildegard kann damit

etwas sehen. Der Augendruck ist sehr gut – Kontrolle der Augen im April.

 

Die ersten Wochen mit Hildegard waren nicht einfach. Sie war sehr wuselig, kam kaum zur

Ruhe, schlief viel zu wenig. Sie schlief nachts bei uns im Bett und meistens durch. Aber

tagsüber war es wirklich anstrengend. Schroeder und Keks waren oft genervt von der wilden

Hummel. Also legten wir den Fokus darauf, dass Hildegard zur Ruhe kam, machten sie auch

mal mit der Leine an der Box fest. Langsam und stetig wurde es besser. Sie schlief tagsüber

besser und länger.

Leider konnten und können wir bis heute ihre Box nicht schließen. Hildegard wird dann

richtig panisch, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass sie lange in einer Box

eingesperrt war. Aber wir können sie in die Box schicken und sie bleibt dann da auch drin –

also meistens. Zwischendurch wird auch mal diskutiert, wenn Madame es anders sieht. .

Wir besuchten mit Hildegard eine Welpengruppe, was sehr gut für sie war. Wir fanden es

wichtig, dass sie auch mit Hunden in ihrem Alter Kontakt hatte. Nachdem sie alle Hunde vom

Geruch her kannte und sich immer sicherer fühlte, forderte sie auch zum Spielen auf.

Im April hatten wir den Kontrolltermin bei der Augenärztin. Wir hatten das Gefühl, dass

Hildegard besser sieht. Aber das konnte natürlich auch nur unser subjektiver Eindruck sein.

Aber nein, es ist genau so. Die Ärztin bestätigte, dass Hildegard besser sieht als im März.

Der Augendruck ist weiterhin gut – nächster Kontrolltermin im September.

Von Anfang an lief sie bei unseren großen Mittagsrunden frei. Sie kommt immer sofort auf

Rückruf zu uns. Sie orientiert sich stark an Schroeder und Keks. Wenn wir alleine mit ihr

unterwegs sind, bleibt sie schön in der Nähe und achtet auf uns. Überhaupt macht ihr ihre

Sehbehinderung nicht viel aus. Wenn man es nicht wüsste, würde man es nicht merken.

Hildegard liebt die Mittagsrunden am Rhein, im Wald, am Kanal – egal, Hauptsache draußen

in der Natur. Ich denke, sie hat einen Plan im Kopf und weiß genau, wo sie ist. Natürlich

erkennt sie auch das Gebiet am Geruch. Was sie überhaupt nicht mag sind Pipirunden um

den Block. Mit Keks und Schroeder geht es – da geht sie brav mit. Aber alleine – nee, das ist

echt doof. Da geht sie auf die Allee, macht sich sauber, und will dann wieder ins Haus. Wenn

wir dann doch mal eine Runde mit ihr gehen möchten – ohne die anderen beiden Hunde -

kann sie stur sein wie ein Esel. Dann stemmen sich 3,8 kg in den Boden und beschließen,

nicht mehr zu gehen. Überreden hilft dann nicht. Nach einem Stück auf dem Arm geht es

aber dann wieder und sie geht brav und ziemlich gut leinenführig mit.

Das Thema „Stubenreinheit“ war lange ein Thema. Anfangs lief es wirklich ganz gut,

zwischendurch dann wieder gar nicht. Natürlich sind wir immer nach dem Essen, nach dem

Spielen, nach dem Schlafen mit ihr raus. Aber es wollte einfach nicht richtig klappen. Gerade

waren wir draußen und trotzdem machte sie nach 30 Minuten wieder ins Haus. Da fällt es

schwer, immer ganz entspannt zu bleiben. Man kniet auf dem Boden, verwünscht diesen

Hund, schaut nach rechts und sie schaut einen an und dann kann man ihr doch nicht böse

sein. Letztlich hat es dann doch geklappt. Geduld ist hier wieder mal das Stichwort.

 

Die Läufigkeit war ein Klacks. Das einzige Problem war das Höschen. Das eine war zu klein,

das andere zu groß. Also musste es ohne eines gehen. Dann wäscht mal hat mehr und putzt

– eigentlich immer.

Hildegard ist ein sehr lustiger Hund. Sie klaut Schuhe aus dem Regal und trägt sie durch die

Wohnung oder in ihre Box. Aber immer nur den Schuh, den man gerade angehabt hab. Oft

schläft sie neben dem Schuh. Sie zerstört ihn nicht, knabbert nicht dran rum. Sie kann sich

auch prima mal alleine beschäftigen mit einem Kauholz oder schaut, ob sie Keks oder

Schroeder „ärgern“ kann. Beide finde Hildegard mittlerweile ziemlich Klasse und spielen gern

mit ihr. Schroeder hat etwas länger gebraucht und muss zwischendurch der kleinen Hummel

erklären, wo der Frosch die Locken hat, wenn sie wieder zu sehr aufdreht. Aber er liebt sie

und ist beim Spielen immer sehr sanft mit ihr.

Einem fast blinden Hund Kommandos – oder wie man nun sagt Signale – beizubringen, ist

nicht so einfach. Das Leckerchen an die Nase tackern und nach hinten ziehen, geht nicht.

Sie läuft dann rückwärts. Also muss man sich was überlegen und sich fragen, was braucht

der Hund für Signale? Für mich braucht sie nur drei Dinge: sie muss sich zu Hause

entspannen können, draußen ihre Geschäfte erledigen und einen perfekten Rückruf haben.

Hat sie alles. Sie muss nicht durch brennende Reifen springen und Kunststücke machen.

Hildegard kann in der Wohnung apportieren und läuft draußen, wenn Keks und Schroeder

den Futterbeutel bringen, immer brav mit hin und wieder zurück. Sie wird dann auch immer

belohnt. Das Bringen ihres Beutels wird sich noch lernen. Sie liebt ihren Futterball und hat

das Prinzip sofort verstanden.

Was ist unser Fazit nach nunmehr fünf Monaten? Ein neuer Hund ist immer eine

Herausforderung. Tierschutzhunde haben immer ein Päckchen dabei. Es gab Momente, da

waren wir auch mal verzweifelt. Hildegard ist unser vierter Hund und ich bin Hundetrainer. Da

weiß man doch, wie es geht. Meint man zumindest. Aber ein Hund mit einer Behinderung ist

eine ganz andere Nummer. Vieles ist anders und unbekannt. Man muss Dinge anders

angehen. Seinen Weg verlassen, um einen neuen Weg zu finden. Aufgeben ist keine Option.

Austausch mit anderen Menschen ist wichtig, weil man den Wald vor lauter Bäumen nicht

sieht. Am Ende wird immer alles gut. Der Hund wird es einem immer danken.

Hildegard ist tief in unserem Herzen – wir lieben sie wirklich sehr – mit all ihren Macken und

für all die Herausforderungen, die sie uns stellt. Alle in der Nachbarschaft mögen sie. Sie hat

sich optisch total verändert. Ich finde sie immer noch hübsch. Peter nennt sie liebevoll

„schäbiger Knöpp“. Ich glaube, sie ist ein glücklicher Hund und wohnt gerne bei uns. Wir sind

jedenfalls glücklich mit ihr und freuen uns auf viele gemeinsame Jahre mit ihr.

Petra Birk ,im Juli 2023